Amadé

VIII. Gefahr und Bewahrung

Den übernächsten Tag, nachdem sie einen pausiert hatten, wanderten Dorothée und Amadé bereits durch das linksrheinische Flusstal und hielten auf die Höhen der Eifel zu. Bevor sie jedoch in die Region des Hohen Venns kamen und nach der Familie Mulot Ausschau halten konnten, mussten zunächst zwei gar nicht so ungefährliche, weil durchaus lebensbedrohende Abenteuer bestanden werden.

Sie erklommen gerade eine ansteigende Bergwiese zwischen einigen Basaltklippen, als ein Fuchs von fern ihren Weg kreuzte. Weil aber leider auch Mäuse auf der Speisekarte dieses Räubers stehen, darum mussten sie sich jetzt schleunigst in Sicherheit bringen, noch ehe der in roten Pelz Gekleidete sie zu einer Mahlzeit einladen konnte, bei der sie die Hauptspeise gewesen wären. Glücklicherweise hatte das Paar unterhalb einer der Klippen eine Erdspalte bemerkt, dorthin flohen sie alsbald.

Zu ihrem Pech waren sie von Meister Reinike nicht unentdeckt geblieben, schon verfolgte er sie. Der Fuchs war größer und schneller als die Mäuse und kam ihnen bald bedrohlich nah. Dann jedoch waren sie plötzlich in dem Riss verschwunden, dem Eingang zu einer Höhlung, die recht tief in den Felsen führte.

Hier versagten die Künste des Listenreichen. Sogar ihm, der seinen eigenen Bau sonst in die Erde grub, widerstand der Basaltstein. Stattdessen legte er sich auf die Lauer und wartete darauf, dass die Mäuse ihre vorwitzigen Näschen einmal aus dem Loch steckten. Ach, wie gut war es doch, dass sie die Notrationen in den Wandersäcken hatten, so konnte ihnen der Hunger nichts anhaben. Auch Durst mussten sie nicht leiden, denn es sickerte genügend Wasser die Spalte entlang.

Während sie ihrerseits darauf warteten, dass der Fuchs unverrichteter Dinge abzog, verging die Zeit und nachdem er mehr als einen halben Tag vor dem Loch ausgeharrt hatte, wurde ihm die Sache zu dumm. Der Magen knurrte ihm derart, dass er Lust und Appetit auf die gut geschützte Mahlzeit verlor, lieber wollte er sich nach einer leichter zu fangenden Beute umsehen. In seinem Stolz verletzt schlich sich der Räuber von dannen.

Es war bereits Nacht, als Amadé endlich einen Blick aus der Felsspalte wagte und feststellte, dass der Feind sich verkrümelt hatte. Weil aber die Nacht eine schlechte Zeit für Mäusewanderungen ist, zu viele Gefahren lauern auf dem Weg, etwa die lautlose Eule, das flinke Wiesel oder andere nachtaktive Jäger, blieben sie bis zum Morgen in der Höhle. Erst als die Sonne aufgegangen war, setzten sie ihre Reise fort.

Tag reihte sich an Tag, während das junge Paar durch die Täler und über die Höhen der Eifel streifte. Immer näher kamen sie dem Hohen Venn und querten eben eine Weide in der Gegend der Menschenstadt Gerolstein, da geschah es, dass Dorothée in der hohen Luft unter dem strahlenden Blau eines milden Maitages den Schatten eines Mäusebussards erblickte. Erschrocken machte sie ihren Mann darauf aufmerksam und zusammen versuchten sie, sich so gut wie irgend möglich zwischen dem hohen Gras, das in dichten Büscheln stand, zu verbergen und unter dem niederen Buschwerk zu verstecken.

Aber so ein Greifvogel hat ausgezeichnete Augen, denen nicht die kleinste Bewegung entgeht. Deshalb erspähte er das Paar nach nur wenigen Momenten. Schon setzte er zum Sturzflug an, um gleich seine Fänge in die Beute zu schlagen, da ertönte der Pfiff einer anderen Maus in der Nähe. Sie lugte aus dem Eingang ihrer Wohnung, warnte und rief die Gejagten zu sich. Schließlich verschwanden alle gemeinsam und blitzschnell in der Öffnung, ehe noch der Bussard den Boden erreichte.

Die Höhlung war lang und weit verzweigt, wie Dorothée und ihr Gatte gar bald feststellen konnten. Sie kamen an manchem Wohn- und Speisezimmer vorbei, an mancher Vorratskammer und mancher Kinderstube, während sie ihrem Retter folgten. Durch die Bank waren alle Räume recht gut bevölkert.

In dieser ausgedehnten Höhlenanlage lebte und hauste die Familie Steffel mit ihrer zahlenmäßig starken Sippe. Endlich hielten sie in einer saalartigen, großen und hohen Kaverne vor dem fürstgleichen Familienoberhaupt und den Ältesten des Geschlechts. Als diese erfuhren, aus welchem Grund die Mulots auf der Wanderschaft waren und wo ihr Ziel lag, gewährten sie dem Paar freies Geleit und ließen sie zu einem Ausgang im Nordwesten der unterirdischen Burganlage ganz am Rande eines Waldes bringen.

Unterdessen hatte der Bussard sich wieder aufgeschwungen und hoch in die Lüfte geschraubt, um von solch hoher Warte aus die gesamte Gegend überblickend das Revier zu beobachten, denn er wusste um die erstaunliche Ausdehnung der Mäuseburg. Folglich erblickte er die zwei Verfolgten sogleich, als sie die Steffelsche Behausung verließen und aus der Tür traten. Erneut setzte er zum Sturzflug an, um die Mäuse zu packen, da irritierte ihn jedoch plötzlich eine Bewegung, die er nur im Augenwinkel mitbekam.

Wie er aber seinen Blick wendete, sah er am Waldrand, dort wo sein Nistbaum stand, einen Schatten durch die Äste huschen, geraden Weges auf sein Nest zu. „Sollte sich etwa ein Baummarder über die Eier in meinem Horst hermachen wollen?“ schoss es ihm durch den Kopf. Das musste er auf jeden Fall verhindern! Also brach er die Jagd ab und eilte pfeilschnell seinem Heim zu, das Gelege im Kampf gegen den Raubfeind zu verteidigen.

Wieder einmal war das Mäusepaar einer unberechenbaren Gefahr entronnen und auf seinem Weg segensreich bewahrt worden. Könntest du Amadé zu dem Geschehen befragen, er hätte dir sicherlich geantwortet, dass dies ein Werk des Heiligen Geistes gewesen sei, dass sie unter der Hut Gottes reisten und allezeit allein aus seiner Güte lebten. Hatte nicht auch der Herr Pfarrer in seiner Andacht zum Neuen Jahr aus der Bibel zitiert und gesagt: „Du bist ein Gott, der mich sieht“?

Irgendwie wusste der Mäuserich in seinem Herzen: Für Gottes Augen ist nichts und niemand zu klein oder zu groß, vielmehr hat jedes Wesen sein Lebensrecht, jedes Teil der Welt seinen Platz, belebte wie unbelebte Natur ihre je einzigartige Bedeutung. Gott der Herr liebte und liebt seine ganze gesamte Schöpfung, sorgt und kümmert sich um sie, schützt und bewahrt jedwede Existenz, ohne sie zu gängeln oder sie – einem Puppenspieler gleich – wie eine Marionette durch Fäden zu zwingen.


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