Amadé

IX. Am Ziel und zurück

Endlich, nach Wochen der Wanderung, waren sie, indem sie südlich von Monschau auf die belgische Stadt Eupen zuhielten, auf der Eifelhochebene, dem Hohen Venn, angelangt. Aber noch hatten sie niemanden aus der Verwandtschaft Amadés zu Gesicht bekommen, und die wenigen Mäuse, die ihnen hier begegneten, waren dem Mäuserich fremd.

Er führte Dorothée in Richtung der elterlichen Behausung, die in der Nähe des Eupener Stausees gelegen hatte. Da endlich lief ihnen Onkel Willem van Buren über den Weg, ein Verwandter aus dem niederländischen Zweig der Familie. Von ihm erfuhren sie, dass vor einiger Zeit am See ein Rattenkönig mit seinen Horden eingefallen war, der jetzt die Stadt Eupen und ihre Umgebung heimsuchte und viele ansässige Tiere vertrieb.

Auch die Mulots waren der Heimtücke und Gewalt gewichen, hatten ihre Habe und sieben Sachen zusammengepackt und waren südwärts gezogen in die Gegend, die im Norden von Bütgenbach und Büllingen mit seinem Stausee, sowie im Süden von Sankt Vith begrenzt wurde. Dort wandten sie sich gen Osten in Richtung der Schneeeifel. Im Westen vor Prüm stießen sie auf einen verlassenen Kaninchenbau, den sie zu ihrem neuen Heim erkoren, und siedelten dort.

Natürlich wollten Dorothée und Amadé den Ratten ebenfalls nicht begegnen, darum nahmen sie den Rat Onkel Willems an und machten sich wieder auf den Weg zurück nach Südosten. Was immer der Mäuserich dabei an bekannten Orten aus seinem Kinder- und Jugendleben erspähte, zeigte er seiner Frau und erzählte aus jenen vergangenen Tagen.

Auf diese Weise verging ihnen die Zeit wie im Fluge, Dorothée wurde vertraut mit den Verhältnissen der Eifel, als wenn sie hier geboren wäre, und fühlte sich bald wie heimisch. Sie waren bis in die Nähe von Amel gelangt, da trafen sie endlich einen der älteren Brüder Amadés mit dem Namen Hercule (sprich: Erkühl), der sie jetzt auf dem schnellsten Weg zu den Eltern brachte, um die Überraschung, die Wiedersehensfreude, die ganze turbulente Aufregung mit ihnen und der gesamten Familie Mulot zu teilen.

War das ein Jubel, als die Eltern ihren Amadé begrüßen und in die Arme schließen konnten! Und sie strahlten vor Wonne, da er ihnen seine junge Frau vorstellte und von seinem Zuhause berichtete. Die Mutter rief schnell einige ihrer Kinder, die mit im Kaninchenbau oder in dessen Nähe wohnten, und gab ihnen den Auftrag, für Speise und Trank, Tische und Sitzgelegenheiten zu sorgen, denn den morgigen Tag sollte zu Ehren der beiden Angekommenen ein fröhliches Fest mit der Familie, Nachbarn und Freunden gefeiert werden. Den Rest dieses Tages jedoch saßen die Eltern mit Dorothée und Amadé zusammen – sie hatten sich so viel zu erzählen, dass der Abend sehr spät wurde, ehe sie schlafen gingen.

Als sie am nächsten Morgen erwachten, herrschten schon reger Trubel und großartig lärmende Geschäftigkeit im Kaninchenbau. Während des Vormittags wurde von den anderen jungen Familien der Sippschaft Mulot das angesagte Fest vorbereitet, welches mit einem reichhaltigen, um nicht zu sagen opulenten Mittagsmahl begann. Was Feld und Flur nur in diesen frühen Sommertagen an Köstlichkeiten zu bieten hatten, bedeckte die Tafel, Wurzeln und würzige Kräutlein, zarte, erlesene Blüten, erste Früchte, fette Käfer, Würmer, späte Vogeleier, aber auch Getreidekörner, Ölsaaten und Nusskerne aus dem Vorrat des vergangenen Herbstes.

Für das junge Paar war es eine zweite, mehrtägige Hochzeitsfeier in ihren Flitterwochen. Doch so schön es auch war, nur zu bald musste wieder Abschied voneinander genommen werden, denn bei Dorothée stellten sich die untrüglichen Zeichen ein, dass sie und ihr Mäuserich bald Eltern werden sollten.

Selbstverständlich wollten die beiden, dass ihr Kind daheim im Taunus, im Kirchbau zu Seelenberg, auf die Welt komme. Weil die Heimreise jedoch einige Wochen in Anspruch nehmen würde, hieß es nun unverzüglich: „Adieu, liebe Eltern, ciao Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen, bye, bye Nichten, Neffen, Basen und Vettern, tschüss Onkel und Tanten!“

Der Morgen, an dem sie aufbrachen, es war nach der Sommersonnenwende, versprach einen glühend heißen Tag, denn die Sonne brannte von einem klaren, blauen Himmel herab. Noch eine ganze Reihe davon sollte folgen, als ob die Hundstage sich ordentlich verfrüht hätten.

Darum empfahl ihnen Tante Augusta, den Weg nach Osten, zwischen Prüm und Gerolstein an die Kyll, sodann an Bitburg vorbei und nach Süden zur Mosel zu nehmen. Dort, wusste sie, gab es unterhalb von Trier immer eine Reisegelegenheit auf dem Fluss. Das Wasser spendete Kühlung und die Sonne verschwand hinter den Höhen der Weinberge früher, als sie über dem Hochland unterging. Auch blieb morgens die Niederung länger im Schatten, so dass die Hitze erträglicher war.

Eine halbe Woche später erreichten sie die Mosel bei Schweich, nutzten die dortige Brücke, um die Nordschleife der Mosel abzuschneiden und südlich der Kyllmündung über die Ehranger Brücke in den Trierer Hafen zu gelangen. Sie begutachteten die Frachtschiffe, die vor Anker lagen und trafen dabei Salvatore Pronto, eine Wasserspitzmaus, die sich einen Kahn zum Wohnsitz gewählt hatte.

Auf die Frage, wie sie schnellstmöglich zum Rhein kämen, um ihn queren zu können, lud er das Mäusepaar ein: „Kommt zu mir an Bord. Mein Schiff soll noch in dieser Stunde ablegen und seine Ladung nach Koblenz bringen. Ich lebe zwar gerne allein und für mich, freue mich aber über gelegentliche Gesellschaft, so dass ich nichts dagegen hätte, wenn ihr mitführet.“

Es ging flussab. Deshalb schipperte der Kahn zügig voran und sie waren schon am nächsten Tag in Koblenz. Hier verabschiedeten sie sich von Salvatore herzlich, gingen an Land und wandten sich, nachdem sie über die von den Menschen gebaute Rheinbrücke ans rechte Ufer gewechselt waren, gen Südosten dem Bergland des Taunus und damit ihrer Heimat zu. Was mochte ihnen auf dem letzten Stück der Hochzeitsreise wohl noch begegnen? Bisher war alles gut verlaufen – und sie freuten sich schon sehr auf das Wiedersehen mit den Eltern und Geschwistern Dorothées, besonders aber auf ihren Freund Sophokles und ihr Zuhause.



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