VII. Die Reise beginnt
Das Neue Jahr hatte begonnen und war inzwischen schon wieder einige Wochen alt. Amadé und Dorothée schwebten wie auf Wolken, lebten im siebten Himmel, sonnten sich alle Tage in ihrem Glück und hörten sonntags den Menschen in der Kirche zu, wenn sie sangen und beteten und aus dem großen Buch – der Bibel – vorgelesen wurde. Da hörten sie anfangs Januar die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland, die zu einer Reise aufgebrochen waren.
Auch sie wollten bald die Hochzeitsreise ins Hohe Venn antreten und Amadés Verwandtschaft besuchen. Nur sollte der Winter sich erst dem Ende zuneigen und der Frühling heraufziehen, damit sie auf dem Weg auch immer etwas zu essen fänden. Außerdem wollten sie nicht ohne Abschied von Herrn Swinegel aufbrechen, und der hielt noch seinen Winterschlaf.
Aber bald nachdem die Menschen ihren Karneval feierten und die Zeit der Erinnerung an die Passion Christi anfing, entdeckten sie die ersten Schneeglöckchen und andere frühblühende Pflänzchen. Die können nur deshalb so zeitig im Jahr wachsen, weil sie die dafür benötigen Nährstoffe im Herbst zuvor in Zwiebeln oder Wurzelknollen speichern, für die Mäuse hervorragende Nahrungsmittel, die sie aus der Erde graben konnten. Darum beschlossen unsere zwei, mit dem Antritt der Reise nicht mehr lange zu warten.
Mit zuviel Gepäck schleppten die jungen Mulots sich nicht ab. In ihre Wandersäcke kamen einige Notrationen aus der Vorratskammer, falls sie einmal kein Glück bei der Nahrungssuche haben sollten, dazu etwas Kuschelstroh, um die Schlafgruben auszupolstern, die sie fänden, und ein Handtuch zum Abtrocknen für den Fall, dass sie ein Regen überraschte, bevor sie einen Unterschlupf erreichten.
In der nächsten Zeit sah Amadé nun täglich einmal nach dem Schlafplatz seines Freundes in der Hoffnung, dass er von seinem Winterschlaf erwacht sei. Darum war er auch sehr erfreut, als mit Beginn der ersten frühlingswarmen Tage – schon durchbrachen Krokusse den Rasen und frühe Erdhummeln brummten durch die Luft – der gute Sophokles vor seinem Erd- und Blätterhaufen stand, seine Nase in die herrlich duftende Frühlingsluft steckte, sich herzhaft dehnte und bog und seinen Körper reckte und streckte.
„Hallo Amadé“ grüßte Herr Swinegel den heraneilenden Mäuserich. „Ich habe hervorragend geschlafen und von ihrer Hochzeit geträumt; ein wunderbarer, fröhlicher, herzerwärmender Traum – und da bin ich aufgewacht! Ihre Gattin ist mir doch nicht böse, weil ich mich gleich nach der Zeremonie wieder zurückgezogen habe? Aber so mitten im Winter, wie die Menschen das Weihnachtsfest feiern, ist für einen Igel ein schlechter Zeitpunkt. Wir sind sterbensmüde, zu nichts weiter zu gebrauchen und wollen nur eines, in Ruhe schlafen!“
„Keine Sorge, Sophokles, Dorothée ist dir deswegen nicht gram“ antwortete Amadé und hielt seinem Freund die Pfote hin. Der schlug ein, während der Mäuserich fortfuhr: „Wir haben sogar das Ende deiner Winterruhe abgewartet, um uns gebührend von dir zu verabschieden. Die Hochzeitsreise steht an, auf der wir sowohl das Hohe Venn, die Heimat unserer Väter, wie auch meine Eltern und Geschwister besuchen wollen, die ja nicht zur Trauung kommen konnten.“
„Dann wird mir wohl die Familie Souris des Champs deine Gegenwart ersetzen müssen“ entgegnete der Igel mit einem weinenden und einem lachenden Auge, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Pfarrgarten, um einander Lebewohl zu sagen.
Einige Wochen später, die Menschen hatten schon längst das Osterfest begangen, stand das junge Paar vor dem größten Hindernis der bisherigen Reise, das eine Lösung verlangte. Sie hatten den Rhein erreicht, den großen Fluss, der von Süd nach Nord das Land durchschnitt und ihnen den Weg nach Westen verwehrte. Wie sollten sie nur auf das gegenüberliegende Ufer gelangen? Einfach hinüberschwimmen war ihnen bei der Breite und Stärke der Strömung unmöglich.
Amadé aber verlor seine Zuversicht nicht. „Hat mich der gute Geist Gottes bisher behütet und geleitet, so wird er uns auch jetzt beistehen und einen Weg aufzeigen, dem wir folgen können. Wir müssen nur darum beten und auf seine Weisung achten, dann werden wir schon wohlbehalten an unser Ziel gelangen. Wie er uns seit unserem Aufbruch immer wieder gute Nahrung hat finden lassen und wir nie hungern mussten, wie er uns Höhlen, Erdlöcher oder dichtestes Laub bereit hielt, dass wir warm und trocken blieben trotz Frühjahrssturm, Regen und Kälte, so wird er uns auch über den Strom helfen. Ich vertraue ihm!“ sprach er zu seiner Frau.
Dies Vertrauen wurde nicht enttäuscht. Denn kurz nachdem Amadé seine Worte beendet hatte, trafen sie einen Feldhamster, der durch einen ufernahen Acker streifte. Der verriet auf ihr Fragen hin, die Menschen hätten etwa einen halben Tagesmarsch flussab eine mächtige Brücke über den Rhein gebaut, die könnten sie problemlos zur Flussüberquerung nutzen.
„Ihr seid bei weitem nicht die ersten Tiere, die auf den Rohr- und Stromleitungen des Bauwerks, über Stahlträger und durch Inspektionstunnel von hüben nach drüben oder von dort nach hier wechseln“ erklärte er ihnen. „Allein die Fahrzeuge der Zweibeiner müsst ihr meiden und ihre gefahrvollen, weil furchtbar verkehrsreichen Wege, sonst könnt ihr leicht ‚unter die Räder‘ kommen.“ – Bei diesem Wort kniff er schelmisch ein Auge zu.
„Merkst du, meine Liebe“ wandte sich Amadé an seine Frau, „wie Gott uns weise führt? Solches habe ich schon erfahren, als ich von meiner Familie und aus der Heimat schied, nur wusste ich es damals noch nicht zu deuten.“ Frohgemut setzten sie ihre Wanderung fort und freuten sich, dass dies erst so gewaltig erscheinende Hindernis nun derart leicht und entgegen allen Augenscheins sollte zu überwinden sein.