oder: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben
E i n s t i e g
Ich weiß nicht genau, wie es kam, aber als ich den Bahnsteig erreichte, setzte sich der Zug, für den ich die Fahrkarte schon vor Wochen gelöst hatte, gerade in Bewegung. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn mit nicht geringem Ärger an mir vorüber ziehen zu lassen und seinem Schlusslicht nach zu blicken. Nur eine Minute früher, und alles wäre planmäßig verlaufen. Ich hätte meinen reservierten Platz einnehmen können, wäre ungehindert auf der gewählten Route nach Hause gelangt und hätte am Abend entspannt mein Heim genießen können. Wieviel mehr jedoch hätte es mich gewurmt, wenn ich da schon geahnt hätte, was alles mit der verpassten Bahn an diesem Tag auf mich einstürmen sollte. Aber der Reihe nach … —
1. Der Morgen tagt
Ich erwachte gegen Viertel nach Fünf. So viel zeigte mir die Armbanduhr, die ich vom Nachttisch griff, ihr großes Zifferblatt, welches dem Aussehen der Normaluhr auf Bahnhöfen nachempfunden war, wegen der frühmorgendlichen Dämmerung dicht vor die Augen haltend. Dann brauchte ich weitere fünf Minuten, um die restliche Müdigkeit, die mich noch gefangen hielt, und den Schlaf, der mich gerne wieder in seine Arme genommen hätte, abzuschütteln.
Schließlich schwang ich mich aus dem Bett, erhob mechanisch meinen Körper, knipste das Licht an und schlurfte hinüber zur Kommode, auf der meine Pillenbox lag. Ein gefülltes Wasserglas für die Nacht stand neben ihr. Bei einigen Schritten meldeten meine Fußnerven: „Heb lieber die Sohlen hoch und pass auf, wohin du trittst. Kleine Steinchen von draußen und trockene Brotkrümel von gestern, die hier und da auf den nackten, harten Fliesen des Bodens liegen, pieken und stechen auf ganz unangenehme Weise, so dass du zusammenzucken musst!“
Das Fach der Box gab die Medikamente für diesen Morgen frei, die ich einnehmen musste, und ich schob die erste Pille gegen meinen Bluthochdruck in den Mund. Mit einem gehörigen Schluck Wasser aus dem bereitstehenden Glas spülte ich sie hinunter. Dabei spürte ich plötzlich den Druck der Blase und eilte also schleunigst ins Bad.
Als ich kurz darauf erleichtert zurückkehrte, legte ich den Schlafanzug ab und kleidete mich an: Frische Strümpfe, Deo unter die Achseln, Hose, Hemd und Schuhe (Slipper, weil es mir inzwischen schwer fällt, Schnürsenkel zu binden), die Uhr, die mich als Eisenbahnfreund kenntlich macht, und endlich die Hörgeräte, die den Hörverlust meiner Ohren ausgleichen sollen, es aber nur unzureichend vermögen. Technisches Hören ist eben anders als natürliches.
Während dessen war die Zeit nicht stehen geblieben und der Minutenzeiger schon über die Dreißig hinausgewandert. Nun schnell das andere Medikament gegen den Bluthochdruck geschluckt und danach hieß es, die restlichen Sachen, die ich für die Nacht und den Morgen noch gebraucht hatte, in den Koffer verstauen. Das waren der Schlafanzug, das in eine Plastiktasche gesteckte Paar Hausschuhe, das ich bis gestern in der Stube getragen hatte, die gebrauchten Strümpfe – fein ordentlich in einer Papiertüte gesammelt, damit ihr „Käseduft“ nicht die letzten sauberen Kleidungsstücke durchdringe – und die nicht mehr benötigte Pillenbox. Meine Arzneien waren nämlich nur morgens und abends einzunehmen.
Zahnpasta und –bürste kamen in den Kulturbeutel und dieser ergänzte zusammen mit der Seife in der Dose, den feuchten, einzelverpackten Toilettenpapiertüchern in der Pappschachtel, dem ausgewrungenen, in mein eigenes Handtuch eingeschlagenen Waschlappen die Dinge, die ich nicht zurücklassen durfte und auch nicht wollte. Endlich konnte nun der große Kofferdeckel geschlossen werden. In der geräumigen Außentasche verschwanden mein Laptop und das Mousepad, in der kleineren die Funkmaus, Netzteil und Kabel. Den so gefüllten, schweren, vollen Koffer stellte ich hierauf an die Tür, fertig zum Abtransport.
Das Zifferblatt zeigte bereits kurz nach sechs, als ich zum Handy griff und das Taxi auf 6:45 Uhr bestellte, damit es mich zum Bahnhof bringe, der fünfzehn Fahrminuten entfernt lag. Eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges dort zu sein, so dachte ich, müsse vollauf genügen. Nachdem das erledigt war, begann ich zu frühstücken und nebenbei die Verpflegung zuzubereiten, die ich auf die Fahrt mitnehmen wollte. Eine dicke, rote Paprikaschote, die ich schon gestern gewaschen hatte, wurde zu Streifen geschnitten, ein Stück Schlangengurke geschält, in dickere Scheiben geteilt, und alles zusammen in die Frischhaltebox gelegt. Sie füllte gemeinsam mit acht herzhaft gebutterten Graubrotscheiben von einem typisch gewürzten österreichischen Hausbrot, welche paarweise mit den bestrichenen Seiten zusammengelegt und in Pergamentpapier eingewickelt waren, meine Umhänge- und Reisetasche. Das Smartphone, auf dem die digitale Fahrkarte abgespeichert war, und das Ladekabel schob ich gut erreichbar und also griffbereit in das von außen zugängliche Seitenfach.
Gerade als ich den letzten Bissen Toastbrot mit Marillenmarmelade in den Mund schob, klingelte der Taxifahrer an der Tür. Schnell leerte ich die Kaffeetasse und schluckte die Tablette Metformin, die mir der Hausarzt wegen meines Alterszuckers verschrieben hatte. Darauf erhob ich mich und öffnete ihm.
„Guten Morgen!“ begrüßte ich den Mann. „Schön, dass Sie so pünktlich da sind. Nehmen Sie bitte meinen Koffer und tragen ihn schon mal zum Wagen. Ich verschwinde nur kurz noch auf dem Klo und komme dann nach.“
Er langte nach dem Gepäckstück und ich wandte mich ins Bad, um die Reise mit einer wirklich leeren Blase antreten zu können. Nachdem dies geschehen und erledigt war, ergriff ich Hut, Jacke und Stock, hängte mir die vorbereitete Reisetasche um, verschloss die Wohnung und folgte meinem Chauffeur. Verflixt, alles in allem hatte das Abholen doch mehr als fünf Minuten gedauert.
Als ich jetzt im Taxi saß, fragte der Mann am Steuer, wann denn mein Zug ginge. Ich gab ihm die entsprechende Auskunft und er meinte, dass es wohl sehr knapp würde, weil nur noch gut zwanzig Minuten zur Verfügung ständen, er in der Stadt nur fünfzig beziehungsweise dreißig Stundenkilometer schnell fahren dürfe, die wenigen Haltplätze am Hauptbahnhof um diese Zeit außerordentlich stark frequentiert seien und ich drei bis vier Minuten zum Ausladen und für den Weg auf den Bahnsteig einrechnen müsse. Natürlich hatte er Recht, denn er war mit den Verhältnissen aufs engste vertraut.
Die große elektronische Anzeigetafel in der Eingangshalle der Station zeigte noch zwei Minuten bis zur Abfahrt des Railjets nach Salzburg. Ich hastete die Stufen der Unterführung zu den Gleisen hinunter und den Korridor entlang bis zum Aufgang an die Bahnsteige sieben und acht, den ich nach vielleicht einer Minute erreichte. Mit dem schweren Koffer die Treppe hinaufeilen, so gut es ging zur nächsten Waggontür hechten und den Knopf zum Öffnen drücken, war die Sache weiterer etwa dreißig Sekunden. Aber die Leuchtdioden des Türdrückers waren und blieben dunkel, leuchteten nicht mehr grün auf, weil die Einstiege bereits verriegelt waren. Ein kurzer Gong, ein Ruck, der Zug setzte sich langsam in Bewegung und ich hatte – wie anfangs erwähnt – das Nachsehen, hatte den stillen Verdruss, meinen Anschluss unnötigerweise verpasst zu haben, hatte den eigentlich vermeidbaren Ärger, eine andere Option für die Heimreise suchen und finden zu müssen.
Die Dame im Reisezentrum, der ich mein Pech schilderte und bei der ich mich nach in Frage kommenden Reisemöglichkeiten erkundigte, war sehr freundlich, dienstbeflissen und eifrig. Sie eröffnete mir, dass die nächste Gelegenheit der Eurocity nach Dortmund sei, der laut Fahrplan um 9:14 Uhr von Villach abfahren solle. Er könne mich bis München bringen, wo ich Anschluss an einen Intercity über Stuttgart und Frankfurt am Main nach Kassel-Wilhelmshöhe hätte. Von dort wäre ich sowieso auf die Nah- und Regionalzüge angewiesen, die ich ja mit meinem Deutschlandticket nutzen könne, so dass es unsinnig wäre, um nach Werl zu kommen, den Fahrschein weiter als bis Kassel zu lösen. Meine Nachfrage, was es denn koste, den Eurocity bis zu seinem Zielbahnhof Dortmund zu nehmen, ergab einen um mehr als zwanzig Euro höheren Ticketendpreis. Daraufhin buchte ich unter Verwendung meiner Bahncard 25 die Fahrt bis Wilhelmshöhe, zahlte zähneknirschend die verlangten hundertfünfzig Euro, verzichtete auf weitere Experimente und schlenderte endlich zurück in den Wartebereich des Bahnhofs.
2. Die Fahrt beginnt
Da saß ich nun und konnte Betrachtungen über die Relativität des Zeitempfindens anstellen, denn im Gegensatz zu heute früh schien die Zeit jetzt nur quälend langsam zu vergehen. Schon hatte ich eine ganze Menge Reisende – Kinder mit Schultaschen, Jugendliche mit Smartphones und Tablets, Erwachsene in Business- oder Freizeitdress, ältere Herrschaften mit schwerem Gepäck – kommen und gehen sehen, da war erst eine dreiviertel Stunde vergangen. Aus dem Verkaufskiosk einer örtlichen Bäckereikette im Seitenteil des Empfangsgebäudes wehte ein Duft von Kaffee und frischem Backwerk herüber. Ich entschloss mich, mir einen kalten Kakaotrunk zu gönnen und dazu eine frische Powidlbuchtel. Das ist eine mit Pflaumenkonfitüre gefüllte böhmische Hefedampfnudel, die ebenfalls mit Puderzucker bestäubt einem Berliner Pfannkuchen ähnelt und gerne mit heißer Vanillesoße serviert wird, aber auch gut solo zu essen ist. Nachdem ich sie mit Genuss verzehrt und den Kakao getrunken hatte, wechselte ich schon einmal gemächlich wieder aus der Halle zurück auf den Bahnsteig.
Die Sonne schien inzwischen warm vom blauen Himmel herab, sodass ich es mir angenehm vorstellte, auf einem Wartesitz der Plattform draußen dem bunten Treiben der emsigen Menschen und des Zugverkehrs zuzuschauen; das bedeutete, auf einer der dort angebrachten Bänke mir einen Platz zu suchen.
In der Tat, hier ließ es sich besser warten als in der stickigen Luft des Wartesaales. Noch etwa fünfundvierzig Minuten bis zur Abfahrt des Eurocity waren zu überbrücken. Während der Sekundenzeiger dahinschlich und der Minutenzeiger behäbig, jedoch unaufhaltsam, auf dem Zifferblatt der Bahnsteigsuhr vorrückte, betrat eine ältere Dame den Perron und blickte sich unsicher nach dem Anzeigebildschirm um. Zuletzt wandte sie sich an mich: „Entschuldigen Sie bitte die Störung“ und auf mich zusteuernd fragte sie weiter: „Fährt hier der Zug nach Dortmund ab?“
„So ist es“ entgegnete ich, „laut Fahrplan um 9:14 Uhr von Gleis sieben.“
„Fahren Sie auch mit diesem Zug?“
„Ja, bis München. Dort steige ich um in den ICE nach Hamburg-Altona. Eigentlich wollte ich schon um 7:16 Uhr mit dem Railjet nach Salzburg gefahren sein, habe ihn aber unglücklicherweise verpasst.“
„Ich war jetzt fünf Wochen bei meiner Tochter, die hier der Liebe wegen lebt, arbeitet und geheiratet hat. Nun fahre ich zurück nach Dortmund zu meinem Mann. Er ist seit kurzem Rentner und wir überlegen, unseren Wohnsitz nach Villach zu verlegen. Wir wären dann in der Nähe unseres Kindes, Österreich gefällt uns ungemein und die ganze Familie liebt die Berge, im Sommer das Wandern und im Winter den Skisport, Langlauf und Abfahrt. Kärnten ist wunderbar! Bis auf zwei, drei Regentage hatte ich die ganze Zeit herrliches Sommerwetter.“
„Stimmt. Als ich vor vierzehn Tagen in Villach ankam, war es noch grau, kühl und regnerisch, das Schotterbett der Gleise entlang der Salzach durch das Hochwasser des Flusses wegen der Regenflut zuvor stark verschlammt. Aber schon am nächsten Tag klarte es auf, die Sonne schien seither stetig und die Temperaturen stiegen wieder. Zwei tolle Sommerwochen habe ich hier in der Nähe des Dreiländerecks Österreich, Italien, Slowenien verlebt.“
„Waren Sie auf Urlaub hier, oder hatte Ihr Aufenthalt einen anderen Grund?“
„Ich bin Ruheständler und daher freier Herr meiner Zeit, habe so gesehen alle Tage Urlaub, jedoch genau genommen eine Visite gemacht. Ich besuchte, ähnlich wie Sie, ein Kind, meinen älteren Sohn, der hier in Villach lebt und bei Infineon arbeitet. Auch er mag das Land, die Leute, ist stolz auf seine Stellung in der Firma und liebt seine Tätigkeit. Er hat zu meiner Freude jetzt eine Freundin und weiteren Anschluss gefunden, sucht nach einer neuen Wohnung oder einem Grundstück, kurzum, beabsichtigt, sich hier niederzulassen. Ich bin neugierig und will sehen, was ihm die Zukunft bringt.“
„Sie sagten vorhin, dass Sie in München den ICE nach Hamburg nehmen; kommen Sie aus Norddeutschland?“
„Nein. Ich fahre nur bis Kassel und dann westwärts über Hofgeismar, Warburg, Paderborn und Soest nach Werl, wo ich seit zweitausendeins zuhause bin.“
„Das ist doch gar nicht so weit von Dortmund entfernt. Hätten Sie da nicht mit dem Eurocity bis zum Endbahnhof fahren können wie ich?“
„Schon, aber die Fahrkarte wäre um die fünfundzwanzig Euro teurer gewesen. Die spare ich so, denn den gesamten deutschen Nahverkehr kann ich mit dem 49-Euro-Ticket nutzen, das ich abonniert habe.“
In diesem Moment wurde unsere Unterhaltung durch eine Bahnsteigansage unterbrochen. „Information zum Eurocity nach Dortmund Hauptbahnhof über Salzburg, München, Ingolstadt, Nürnberg, Würzburg, Darmstadt, Mainz, Koblenz, Bonn, Köln, planmäßige Abfahrtszeit neun Uhr sechzehn von Gleis sieben, heute circa zehn Minuten später. Ich wiederhole … “
Nachdem der Lautsprecher verstummt war, nahm die Dame den Gesprächsfaden wieder auf und meinte: „Alle Läden und Geschäfte, die ich brauche, sind ganz in der Nähe unserer Wohnung, und für weitere Reisen nehmen wir den Fernverkehr in der ersten Klasse in Anspruch. Darum lohnt sich das Deutschlandticket für uns nicht. Auch jetzt habe ich einen reservierten Erste-Klasse-Sitzplatz in Wagen vierundvierzig. Laut Wagenstandanzeiger hält er in Gleisabschnitt D. Dorthin will ich mich nun schon einmal begeben.“
„Gut“ erwiderte ich, „am Anfang des Zuges ist ein Steuerwagen eingesetzt, der hat die zweite Wagenklasse sowie ein Mehrzweckabteil für Fahrräder, Rollstühle und dergleichen, dann folgen die Waggons erster Klasse und am Schluss wieder die mit zweiter Klasse. Ich denke, der vordere Wagen wird von Klagenfurt her noch nicht stark besetzt sein, so dass ich einen schönen Sitzplatz finde. Außerdem läuft er im Münchener Hauptbahnhof, der ja ein Kopfbahnhof ist, bis ans Gleisende vor den Prellbock und verkürzt mir damit die Umsteigezeit. Hier allerdings muss ich fast ganz bis an den Anfang des Bahnsteigs vorlaufen, um in den Abschnitt A zu gelangen, der liegt von Ihrem Ziel abgewandt und Ihrem Weg entgegen. Darum verabschiede ich mich jetzt von Ihnen und wünsche eine gute, angenehme Reise; kommen Sie wohlbehalten daheim in Dortmund an!“
„Vielen Dank! Gleiches wünsche ich Ihnen auch, kommen Sie gut nach Hause!“ meinte sie, griff nach ihrem Rollkoffer und wanderte langsam in Richtung des für den Halt ihres Waggons angegebenen Bahnsteigbereichs. Ich blieb noch auf der Bank sitzen und blickte ihr nach, bis die Ansage erklang: „Achtung an Gleis sieben. Es hat Einfahrt der Eurocity nach Dortmund Hauptbahnhof über … Vorsicht bei der Einfahrt des Zuges!“
Ich erhob mich behäbig von meinem Sitz, trat seitwärts unter der Bahnsteigüberdachung vor und schlenderte lässig auf das blaue Schild zu mit dem großen weißen A darauf. Wenige Augenblicke später quietschten die Bremsen und der Steuerwagen hielt mit seiner hinteren Tür fast vor meinen Füßen. Nun betätigte ich die Klinke, drückte sie herunter, die Tür schwang auf. Den linken Schuh auf das unterste Trittbrett setzend hievte ich den schweren Koffer hinein, kletterte die Stufen nach und befand mich im Zug.
Hurra! Wie ich vermutet hatte, waren die meisten Sitzplätze des Wagens noch frei und nirgends eine Reservierung angeschlagen. Aus diesem Grund konnte ich in Fahrtrichtung rechts eine Vierergruppe belegen, die einen ausgezeichneten Fensterblick bot. Stock und Hut wanderten auf die Ablage über mir, Reisetasche und –jacke links neben mich auf den Sitz, den Koffer schob ich unter das Mitteltischchen und mir selbst machte ich es am Fenster bequem. Voller Vorfreude schaute ich durch das Glas, als der Zug anfuhr, der sonnenreiche Spätsommertag versprach einzigartige Ausblicke in die wunderbare Bergwelt, auf die Felder, Wälder, Dörfer und Städte neben der Bahnstrecke.
Ich besah mir die grünen Wiesen und die majestätischen Felsschluchten, blickte auf schlanke Bergkirchen und wuchtige Trutzburgen, die über dunklen Nadelwäldern und auf steinigen Felsklippen erbaut waren, erspähte hell getünchte Kapellen, die sich gämsengleich in die Klüfte schmiegten, dazwischen auch Bergbauernhöfe auf den Almen und Holzhütten, die Vogelnestern ähnlich an den steilen Wänden hingen. So zog die österreichische Landschaft an meinen Augen vorüber, während das Bahngleis immer mehr Höhe gewann.
Hinter Spittal, dem Tor zum Millstätter See, stiegen die Gleise der Strecke aus dem Drautal, das wir hier verließen, entlang der Möll, einem ihrer Zuflüsse, vom Grund hinan immer weiter die Berghänge hinauf. Tief unten lag nun mancher Weiler, die Kunstbauten aber, die Brücken und Tunnel wurden immer kühner. Hin und wieder öffnete sich der Blick auf die alte, aufgelassene Trasse, die sich viel mehr durch das Gebirge gewunden hatte, länger, kurvenreicher, aber dafür mit geringerer Steigung gewesen war, sodass frühere, nicht so starke Maschinen sie bewältigen konnten. Die Gleisbögen der neuen Strecke dagegen waren sanfter und flacher, ließen höhere Geschwindigkeiten zu, auch waren die Elektromotoren der modernen Lokomotiven kräftiger, leistungsfähiger, ihnen machten größere Lasten und die steilere Steigung wenig aus und damit wurde das Reisen zunehmend schneller, angenehmer und bequemer.
Hinter dem Bahnhof von Mallnitz-Obervellach drang der Zug in den Tauerntunnel ein, der unterhalb des Gebirgskamms der Hohen Tauern den Bergstock auf einer Länge von fast neun Kilometern durchstößt. Wo die Strecke endlich wieder aus ihm heraustritt, senkt der Bahndamm sich hinab ins Gasteiner Tal und bringt auf ihm die Reisenden nach Bad Gastein, Bad Hofgastein und Dorfgastein, bevor der Weg auf das Tal der Salzach trifft und ihm flussab in einem Schwenk nach Osten folgt. Sich an der Seite dieses Flusses durch den Pongau schlängelnd gelangt die Bahn bald nach St. Veit und wendet sich gen Bischofshofen wieder stracks nach Norden, immer in Ufernähe neben der Salzach her, bis hinter Hallein die Alpen sich öffnen. Die Berge treten zurück, das Tal wird breit und ziemlich flach liegt Salzburg da ausgebreitet in einem weitgedehnten Kessel.
Mit immer noch zehn Minuten Verspätung erreichte der Eurocity den Hauptbahnhof. Hier war fahrplanmäßig ein längerer Aufenthalt vorgesehen, denn Fahrzeugführer und Zugpersonal der ÖBB mussten für die Weiterfahrt über die Geleise der Deutschen Bahn mit bundesdeutschen Personalen wechseln. Salzburg ist ein wichtiger Umsteigebahnhof der österreichischen Verkehre, jedoch auch unmittelbarer Grenzbahnhof zum Freistaat Bayern auf der Fernstrecke nach München. Während wir noch am Bahnsteig hielten, erklang plötzlich die Durchsage über die Lautsprecheranlage des Zuges: „Sehr geehrte Fahrgäste! Leider verzögert sich die Abfahrt unseres Zuges um weitere circa sieben Minuten, da wir noch die Ankunft des verspäteten Railjets aus Wien abwarten müssen. Wir bitten um Verständnis und Entschuldigung.“
Für mich bedeutete diese Verzögerung, dass ich nun den Anschluss in München nicht mehr erwischen würde, denn bei zehn Minuten Umsteigezeit, aber mehr als einer Viertelstunde Verspätung, war der Übergang in den vorgeschlagenen ICE 584 nach Hamburg einfach nicht mehr zu schaffen. Ich würde auf den nächsten mit Ziel Hamburg, also den ICE 594, der eine Stunde später den Münchener Hauptbahnhof verließ, warten müssen.
Das Gegenstück zu Salzburg ist auf deutscher Seite die bayrische Station Freilassing, Ziel mancher innerdeutschen Verbindung. Sie war deswegen als unser nächster Halt vorgesehen, in den wir auch bereits nach gerade einmal fünf Minuten Langsamstfahrt einliefen. Es stiegen Beamte der Bundespolizei zu auf der Suche nach Menschen, die entweder als Flüchtlinge auf diesem illegalen Weg in die Bundesrepublik Deutschland einreisen oder als Fahrgäste ohne gültigen Fahrausweis den Zug nutzten wollten, um sich Transportleistungen zu erschleichen. Eine verschlossene und blockierte WC-Tür erregte ihr Misstrauen. Beim nächsten regulären, dem fahrplanmäßigen Stopp in Traunstein sollten sie zwar den Eurocity wieder verlassen, das geschah jedoch nicht ohne eine weitere Verzögerung von gut fünf Minuten. So lange dauerte die aufwändige Überprüfung der Toilette, deren Ergebnis darin bestand, dass wohl bei der Übergabe des Zuges in Salzburg vergessen worden war, die Meldung über die Sperrung durch das Personal weiterzugeben.
Die Fahrt bis München verlief danach ohne weitere Zwischenfälle und besondere Vorkommnisse, die Verspätung aber hatte der Zug nicht mehr aufzuholen vermocht. Es blieb mir darum nichts anderes übrig, als mich geduldig in mein Schicksal zu ergeben, im Bahnhof der bayerischen Landeshauptstadt die erzwungene Wartezeit zu verbringen und erst den nächsten Anschluss um 14:49 Uhr zu nehmen. Die knappe dreiviertel Stunde bis dahin nutzte ich, mich an einem der Kioske mit Essen und Trinken zu versorgen, schließlich war mein Proviant schon in Salzburg verzehrt, Mittag inzwischen längst vorüber und ich recht hungrig und durstig geworden.
3. Im Intercity nach Kassel
Der Intercity 594 nach Hamburg-Altona kam zwar noch pünktlich in München an, aber schon die Abfahrt erfolgte wieder mit einer etwa zehnminütigen Verspätung. Sollte der Zug am Morgen, den ich verpasst hatte, der einzige für mich gewesen sein, der fahrplanmäßig gefahren war? Früher als vermutet, nämlich in Augsburg, vergrößerte sich der Verzug unserer Reise um eine weitere Viertelstunde, denn es waren für einen erkrankten Fahrgast über den Bahnfunk Notarzt und Sanitäterteam an den Bahnsteig gerufen worden. Die mussten freilich erst dahin kommen, um ihn behandeln und eventuell in ein Krankenhaus überführen zu können. Nach der Erstversorgung im Waggon geschah dann solches auch und anschließend durften wir die Fahrt fortsetzen, die uns über Ulm und Stuttgart nach Frankfurt bringen sollte.
Für mich war es eine eigenartige und merkwürdige Erfahrung, dass der Intercity dabei wiederholt seine Laufrichtung umkehrte, jedoch einleuchtend erklärlich, weil der alte, bisherige Stuttgarter Bahnhof – wie zuvor München und später Frankfurt – zu den sogenannten Kopfbahnhöfen gehört, die jeweils Endpunkte der sie erreichenden Strecken sind. Genau dieser Nachteil soll ja unter dem Projektnamen „Stuttgart 21“ mit dem Ausbau- und Umbau zu einem Durchgangsbahnhof geändert werden. Während der ICE dem Wendepunkt Stuttgart entgegeneilte – mein quarzgesteuerter Zeitmesser am linken Handgelenk zeigte inzwischen in Übereinstimmung mit der Angabe auf den Displays in den Wagen fast siebzehn Uhr an – begab ich mich in das Bordbistro des Zuges, um mir zum etwas verspäteten Nachmittagskaffee ein Stück Mandel-Butterkuchen zu holen sowie eine Flasche Stilles Wasser.
In Stuttgart entpuppte sich die Tatsache, dass die Sitze der Vierergrup-pe, wo ich meinen Platz genommen hatte, keine Reservierungen auswiesen, im Übrigen die Auslastung des Zuges relativ gering war und die anderen Reisenden ganz ihren Wünschen und Vorstellungen entsprechend überall sonst in den Waggons untergekommen waren und deshalb um mich herum alles frei blieb, als äußerst vorteilhaft. So konnte ich mich einfach in Fahrtrichtung nach Gegenüber umsetzen und den schönen Fensterplatz behalten, den ich schon seit der Abfahrt in München innehatte. Das gleiche Spiel wiederholte sich danach in der hessischen Mainmetropole, der Zug musste „Kopf machen“, weil eben auch der Frankfurter Hauptbahnhof ein Sackbahnhof ist.
Sowohl bei der Einfahrt in die Station als auch später bei der Ausfahrt konnte ich von meinem Fenster aus die beeindruckende Skyline der Stadt bewundern, die Geleise führen ja ganz in der Nähe der modernen Gebäude entlang. Der Bereich des Finanzviertels mit seinen Banken, Versicherungen, Konzern- und Geschäftsverwaltungen in Hochhäusern und Bürotürmen aus spiegelnden, glasverkleideten Fassaden, großen Firmenemblemen, abertausenden Lichtern besitzt durchaus eine US-amerikanische, weltläufige, unprovinzielle Anmutung und damit ein für deutsche Verhältnisse besonderes Flair. Am Steuer eines Autos bei der Fahrt über die Autobahn hat man für gewöhnlich keinen Blick für so etwas und befindet man sich innerhalb der Straßenschluchten, verliert die Sicht an Imposanz, weil die hohen Fassaden den freien Blick hindern. Im tiefen Anflug auf den großen Flughafen, einem wichtigen Drehkreuz im nationalen wie internationalen Flugverkehr, schwebten Passagier- und Frachtmaschinen über die Spitzen der Wolkenkratzer hinweg: Fluch und Segen für die Stadt durch die Neuzeit mit ihrem pulsierenden Leben aus Massenverkehr, Luftverschmutzung und allgegenwärtigem Lärm der Flieger, Autos und Bahnen.
Die Fahrt nach Fulda führte uns durch den Spessart und verlief dann weiter auf der ICE-Neubaustrecke, die von Würzburg herkam und über Kassel, Göttingen, Hannover den Intercity in Richtung Norden bis nach Hamburg lenkte. Während der Zug sich der Bischofsstadt am nordwestlichen Fuß der Rhön näherte, meldete sich die DB-Navigator-App auf meinem Handy und zeigte an, dass der Anschluss in Wilhelmshöhe an den RE11 nach Düsseldorf über Warburg, Paderborn, Soest, Hamm, Dortmund infolge einer Entgleisung zwischen Lippstadt und Paderborn entfiel. Es versetzte mich in eine gewisse Unruhe, weil genau das meinen Weg und also mein Weiterkommen betraf. Hätte ich am Morgen die vorgesehene, vor Wochen gebuchte Verbindung erreicht, wäre ich mit dem Intercity bis Hannover gefahren, anschließend über Bielefeld nach Hamm und erst dort auf den Regionalverkehr angewiesen gewesen; dies waren die Daten meines ungenutzten und aufgrund der Zugbindung, die ein Sparpreisticket aufweist, verfallenen Digitalfahrscheins.
Weil damit die zeitliche Abfolge meiner Reise ebenso ins Ungewisse fiel wie spätere Verpflegungsmöglichkeiten mit Essen und Trinken, wir zudem wegen inzwischen eingefahrener Fahrplanverschiebungen mit Sicherheit deutlich nach zwanzig Uhr in Kassel ankommen sollten, ich jedoch einen ordentlichen Kohldampf verspürte – das Stückchen Kuchen am Nachmittag hatte gar nicht lange vorgehalten –, suchte ich noch einmal den Speisewagen des Fernzuges auf und orderte zum Abendbrot einen herzhaft-kräftigen Kartoffel-Karotten-Eintopf mit Würstcheneinlage. Als der Intercity schließlich in Wilhelmshöhe hielt, verließ ich inzwischen recht müde und abgekämpft den Zug und stieg damit zu einer Zeit aus, da ich eigentlich hätte in Werl ankommen sollen.
Den endlos erscheinenden Bahnsteig entlang, es waren mehrere hundert Meter, weil mein Platz im vorletzten Wagen gelegen hatte, und die Schräge hinaufschleichend auf die obere Ebene, die den Übergang zu den anderen Geleisen bildete, gelangte ich zur DB-Reiseinformation und Fahrplanauskunft, die ihren Schalter dort oben hatte. Ich fragte den uniformierten Mitarbeiter höflich nach einer Heimreiseoption für mich. Der freundlich zugewandte Mensch, der an diesem Abend Dienst tat und – das nehme ich im Nachhinein an – schon vielen unglücklichen, ratlosen, verärgerten, enttäuschten und ergrimmten Bahnkunden wegen der absoluten Streckensperrung zwischen Paderborn und Lippstadt sowie aller damit verbundenen Betriebsstörungen hatte helfen, sie vielleicht trösten oder ihre Wut ertragen müssen, druckte mir eine Fahrplanübersicht aus, die eine Sonderfahrt nach Paderborn anstelle des entfallenen RE11 auswies, Abfahrt in Kassel um 21:03 Uhr (statt der ursprünglich vorgesehenen 19:03 Uhr des regulären Fahrplans, den ich im Reisezentrum Villach erhalten hatte).
4. Die Streckensperrung
Was aber war der genaue Grund für die Betriebsstörung und die Streckensperrung zwischen Paderborn und Lippstadt, die alle Zugverbindungen des Nah- und Fernverkehrs aus Nordhessen ins östliche Westfalen oder ins Ruhrgebiet und deren Gegenrichtungen betraf? Die wenigen Informationen, die wir bisher an diesem Montag und unterwegs erhielten, sprachen von einer Zugentgleisung bei Geseke. Für mich konkreter wurde die Geschichte durch einen ganzseitigen Bericht meiner Tageszeitung am darauffolgenden Mittwoch. Ein Gütertransport mit beladenen Zementwagen aus dem Werk in Geseke, der am Sonntag über das Werksanschlussgleis in den Bahnhof von Geseke gebracht und dann weiter ausgeliefert werden sollte, war verunglückt.
Der junge Mann, der von Kindesbeinen an sich für die Eisenbahn interessiert hatte, seine Eltern bewohnten ein Häuschen in der Nähe einer Bahnstrecke und eines Bahnhofs und diese waren der Abenteuerspielplatz seiner Kindheit gewesen, machte zielstrebig seinen Kinder- und Jugendtraum zur Wirklichkeit. Er ging bei einem Bahnunternehmen in die Lehre und absolvierte mit Erfolg die Prüfungen für den Betriebs- und Fahrdienst auf einer Lokomotive. Er war „Lokomotivführer“ geworden, nicht wie der berühmte Lukas von Michael Ende auf einer mit Dampf betriebenen Maschine, sondern das Führen und Bedienen einer dieselhydraulischen im Rangier- und Gütertransportdienst war seither seine Aufgabe, die er mit ganzem Stolz und grenzenlosem Einsatz versah.
An diesem Sonntagvormittag sollte ein Ganzzug mit vollbeladenen Zementkesselwagen aus dem Geseker Werk abgeholt werden. Er begab sich zum Abstellplatz der Lokomotive mit der Betriebsnummer 05, die seine Firma, die Eisenbahngesellschaft Potsdam, von der Westfälischen Landeseisenbahn (WLE) angemietet hatte, um sie den Vorschriften der Bedienanleitung entsprechend aufzurüsten und in Betrieb zu setzen. Sie war ein von Deutz im Jahre 1965 gebauter und ausgelieferter, dreiachsiger Rangierdiesel, der durch die Zeit hindurch schon bei verschiedenen Eisenbahnverkehrsgesellschaften in Dienst gestandenen hatte und zuletzt von der WLE erworben wurde. Anno 1997 hatte die Maschine eine Modernisierung, eine Motorerneuerung und eine Überholung der Aufbauten im Stil einer MaK-Lok erhalten. Das lag also auch schon wieder sechsundzwanzig Jahre zurück. In den vorangegangenen Tagen waren einige kleinere Mängel aufgetreten, die gemeldet wurden und am folgenden Montag in der Werkstatt hätten behoben werden sollen. Keines aber dieser Probleme beeinträchtigte die Betriebssicherheit. Darum könne keine Rede davon sein, dass die Lok nicht einsatzfähig gewesen sei, erklärten später die zuständigen Eisenbahnunternehmen, als sie zum Hergang des Geschehens befragt wurden.
Wie dem auch sei, zunächst nahm der gerade einmal Dreißigjährige das Gefährt von außen in Augenschein, danach kletterte er in den Führerstand und startete den Motor. Bei der weiteren Aufrüstung bemerkte der leidenschaftliche Eisenbahner, dass ein Steuerventil der Druckluftleitung im Steuerkasten leichte Undichtigkeit aufwies, die er jedoch selbst beheben konnte. Derart jedenfalls äußerte sich später ein Bekannter des Opfers zu dem Unfallhergang. Hätte der Luftdruck der Bremsleitung nicht bei 5 atü gehalten werden können, hätten die Bremsen an den Wagen ausgelöst und der Zug wäre nicht von der Stelle zu bewegen gewesen. Nach der vorläufigen Reparatur verlief die Bremsprobe unauffällig und es stand nichts mehr im Wege, den Überführungsdienst auszuführen. Der Zug war jetzt ordnungsgemäß angekuppelt und überprüft, er brachte ihn ohne Schwierigkeit aus dem Werk und auf die Strecke.
Während er sich später dem Bahnhof Geseke näherte, wo er vom Anschlussgleis über die Hauptstrecke hinüber auf eines der Gütergleise wechseln sollte, war die Geschwindigkeit seines Zuges auf höchsten vierzig Kilometer pro Stunde zu senken, das erforderte der Gleisbogen, den der Anschluss vor dem Bahnhof machte, das erforderte die Fahrt über die Weichenstraße, das geboten die Signale an der Strecke und sein Buchfahrplan. Er musste jedoch voller Schrecken erkennen, dass die Bremsen versagten, nicht anziehen wollten. Gut dreihundertfünfzig Meter vor dem Bahnhof rollte der tonnenschwere Güterzug noch mit mehr als siebzig Stundenkilometern auf den Gleisen dahin. Dann schlugen zusätzlich noch Flammen plötzlich aus dem Motorvorbau der Diesellok – vielleicht war ja nicht die Bremsanlage, sondern vielmehr die Steuerung der Hydraulik betroffen gewesen und von dem Lokführer notdürftig instandgesetzt worden? – Jetzt sah er sich in seiner Verantwortung für die Fahrzeuge, den ungestörten Betrieb der Hauptbahn und die Vermeidung einer Katastrophe gezwungen, verschiedene Notfallschritte vorzunehmen.
Der erste bestand in einem Notruf an den Fahrdienstleiter, den er über sein Diensthandy absetzte und mit dem er die Probleme anzeigte und auf mögliche Gefahren für die Hauptbahn hinwies. Danach verließ er die Lokomotive, kletterte über den nächsten Wagen bis auf die Bühne des zweiten, um von dort aus die Bremsleitung zu kappen, damit durch den Druckverlust eine Zwangsbremsung ausgelöst werde. Leider war die Zeit für dieses Vorhaben wegen der zu hohen Geschwindigkeit des Zuges nicht mehr ausreichend. Die Wagen schossen in die Kurve, kippten, entgleisten, hebelten auch die Lok aus der Spur, einer überholte sie sogar, wobei er über Schotter und Schwellen rutschte. Ein anderer begrub den verzweifelt auf Hilfe bedachten Lokführer unter sich, der mit zerquetschtem Leib augenblicklich verstarb. Weitere stürzten in die Gleise der Hauptstrecke, verbogen sie, beschädigten Ober- und Unterbau, mähten auch die Masten der Oberleitung um und rissen sie nieder. Kurzum, es kam zu einem heillosen Tohuwabohu und Durcheinander am Unglücksort, welches jeglichen schienengebundenen Fahrbetrieb auf der Ost-West-Verbindung zwischen Paderborn und Lippstadt auf Wochen hin unterbrechen musste, sehr zum Leidwesen aller Pendler und Reisenden, die auf diesen Weg angewiesen waren.
Nur allmählich wurden die Folgen der Betriebsstörung ersichtlich, die alle Fernverbindungen aus dem Westen, aus den Ballungsräumen des Ruhrgebiets in den Südosten der Republik nach Erfurt, Leipzig und Dresden über das Drehkreuz Kassel-Wilhelmshöhe ebenso betraf wie die Regionalzüge zwischen Münster, Düsseldorf, Rheine und Paderborn. Fernzüge wurden, soweit es möglich war und gelang, über Herford oder Hannover umgeleitet mit allerdings teils erheblichen Verspätungen. Für den Regionalverkehr war bald ein Schienenersatzverkehr durch Busse eingerichtet, die Bahnen fuhren nur zwischen Paderborn und Kassel, oder zwischen Lippstadt und den Zielen im Westen. Dies Handicap also – unerwartet, unvermutet und unvorhersehbar – überschattete jetzt meine Fahrt am Montag und führte zu all den geschilderten Komplikationen, die darin gipfelten, dass ich erst am Dienstagmorgen daheim ankommen sollte.
5. Vertraute Wege
Obwohl der an Stelle des RE11 abgehende Sonderzug ebenfalls unpünktlich war, gelangten wir, nämlich alle, die in Richtung Ruhrgebiet weiterreisen wollten oder mussten, noch richtig zum Anschluss an den Bus des Schienenersatzverkehrs, der vom Vorplatz des Paderborner Bahnhofs aus startete, allerdings nicht wie geplant um 22:35 Uhr, sondern erst um 22:45 Uhr. Darum fragten sich unterwegs diejenigen, die nicht in Lippstadt blieben, ob der Übergang zum Zug nach Münster, der um 23:38 Uhr abgehen sollte, zu schaffen sei. Der Bus jedenfalls bewältigte ohne Stop und mit der Geschwindigkeit eines Schnellbusses die circa vierzig Straßenkilometer zwischen den beiden Orten, sodass an seinem Ziel noch mehr als genügend Umsteigezeit zur Verfügung stand. Wie enttäuscht und verärgert war ich allerdings, als auf der Anzeigetafel, die am Bahnsteig des Lippstädter Bahnhofs hing, schließlich die Information erschien: „RB89 nach Hamm, Abfahrt 23:38 Uhr: Zug fällt aus. Nächster Anschluss RB89 nach Münster, Abfahrt 0:38 Uhr“.
Ich wusste ja, dass die letzte Verbindung nach Werl vor der nächtlichen Betriebsruhe der Deutschen Bahn AG, die i.d.R. ungefähr drei Stunden beträgt und gewöhnlich nach ein Uhr beginnt und gegen fünf Uhr endet, mit der RB59 um 0:04 Uhr von Soest abging, wie sollte ich also dann später nach Hause kommen? In meiner Verzweiflung versuchte ich, jemanden aus meinem Bekanntenkreis in Werl über das Smartphone zu erreichen, um ihn oder sie zu bitten, mich doch gegen ein Uhr in Soest aufzulesen und heimzubringen. Leider war keiner der Anrufe von Erfolg gekrönt, sie schliefen wohl schon alle und die Geräte surrten, klingelten oder tuteten so lange, bis die Verbindungen automatisch abgebrochen wurden.
Ein Mitreisender aus der auf ein gutes Dutzend geschrumpften Gruppe derjenigen, die noch wartend auf dem Bahnsteig aushielten, hatte mich beobachtet und sprach mich plötzlich an. Er war von schlanker, hagerer, etwas ungepflegter Erscheinung, vielleicht eine Kopflänge größer als ich, mit einem Rucksack und einer Reisetasche bepackt. Aber wer weiß, wie derangiert auch mein Äußeres inzwischen aussehen mochte nach all den Strapazen dieses in wenigen Minuten zu Ende gehenden Tages.
„Na, ob der angezeigte Zug wirklich fährt?“ fragte er und fuhr fort: „aber selbst wenn, in Soest gibt‘s erst morgen früh wieder Anschluss nach Werl. Ich wohn dort im Konvikt, kennen Sie das vielleicht?“
„Allerdings“ entgegnete ich, „mein Ziel ist ebenfalls Werl, wo ich seit zweitausendeins lebe.“
„Dann sind wir uns sicherlich schon mal begegnet, Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Gut möglich, ich bin Pastor und bis zweitausendneunzehn in der Werler evangelischen Kirchengemeinde beschäftigt gewesen, jetzt bin ich jedoch im Ruhestand.“
„Ah ja! Sie haben Messen in der Wichernwerkstatt gehalten und waren auch bei den Weihnachtsfeiern für die Alleinstehenden im Walburgahaus dabei, da habe ich Sie gesehen, bestimmt.“
„Richtig, das waren einige meiner Aufgaben.“
„Wenn Sie wieder zu Hause sind, können Sie mich ja mal im Konvikt besuchen. – Wie aber wollen Sie diese Nacht zubringen? Ich habe meinen Schlafsack hier in der Tasche.“
„In meinen Jugend- und Studententagen hatte ich meinen auch immer dabei, doch jetzt, mein nächster Geburtstag ist der siebzigste, ist das nichts mehr für mich. Ich werde einfach schauen, was sich ergibt.“
„Dann wünsch ich Ihnen alles Gute!“ und mit diesen Worten trollte er sich.
Tatsächlich kam die RB89 von Münster kurz vor halb eins in Lippstadt an und hielt ausnahmsweise statt auf Gleis zwei in dieser Nacht auf Gleis eins, um – wie angezeigt – um 0:38 Uhr wieder nach Münster zurückzufahren. Nachdem die wenigen Fahrgäste ausgestiegen waren, konnten wir Wartenden in die Bahn einsteigen und uns schon einmal einen Platz nach unserem Gusto suchen. Der Zug war klimatisiert, ich hatte mir wieder eine Vierergruppe erobert und daher genügend Spielraum, es mir bequem zu machen, meine Sachen auszubreiten und die Füße auszustrecken. Daraufhin beschloss ich sogar, bis zum Endhalt in Münster mitzufahren; das erschien mir anheimelnder, als irgendwo auf einem zugigen Bahnhof die Nacht abzuwarten.
Es waren bereits zehn Minuten über die Zeit, bevor sich die Bahn in Bewegung setzte und sie hielt, ohne dabei besondere Eile an den Tag zu legen, jeweils an den üblichen Haltepunkten: Bad Sassendorf, Soest, Borgeln, Welver, Hamm Hauptbahnhof. Hier pausierten wir für mehr als eine halbe Stunde, wie mir deuchte, um auch die allerletzten Nachtbummler vor der Betriebsruhe aufzulesen. Ein Intercity mit Zwischenstopp wurde abgewartet, ebenso eine letzte Regionalbahn von Bielefeld her und eine aus dem Ruhrgebiet, die auf den Nachbarbahnsteigen einliefen und anschließend abgestellt wurden.
Irgendwann endete auch dieser Aufenthalt und der Rest der Strecke wurde in Angriff genommen: Hamm-Heessen, Bockum-Hövel, Mersch, Drensteinfurt, Rinkerode, Münster-Hiltrup und endlich Münster-Hauptbahnhof. Wir erreichten dies Ziel gegen 2:30 Uhr. Für alle verbliebenden Fahrgäste hieß es nun Aussteigen, denn der Zuglauf endete dort in jenem Bahnhof. Zum Glück beherbergt er als großes Reisezentrum in der nördlichen Region Westfalens und Verkehrsknoten der Universitätsstadt unter seinem Dach ein Geschäft des REWE-Konzerns, das unter der Bezeichnung „Rewe-to-go“ an sieben Tagen der Woche für vierundzwanzig Stunden geöffnet hat. Nachdem ich die Toilettenanlage von sanifair in Anspruch genommen hatte, konnte ich mir dort ein Getränk und noch einmal etwas Essbares besorgen, worauf ich mich auf einem der Sitzplätze davor niederließ, um Durst und Hunger zu stillen, ein klein wenig zu dösen und die gut zweieinhalb Stunden zu überdauern, bevor am frühen Morgen die erste RB89 nach Warburg, die jedoch wegen der Streckensperrung vor Paderborn nur bis Lippstadt verkehrte, mich um 5:10 Uhr wieder nach Soest bringen konnte.
In der Zwischenzeit zog die Kalt-, Starkregen- und Gewitterfront, die die Wetterdienste schon am Vortag angekündigt hatten, mit Blitz, Donner und dichtfallenden, dicken Wassertropfen Richtung Ostnordost über Münster hinweg, mich, der ich ja trocken und windgeschützt im Bahnhof saß, konnte sie nicht schrecken und mir auch nichts anhaben. Lediglich als ich in den Zug nach Soest einstieg, trafen mich die heftigen Klatscher einer nassen Dusche, jedoch nur für einige Sekunden, dann hatte der Wagen mich aufgenommen. Während die Bahn jetzt ihre Fahrgäste den nächsten Zielen Hamm und Hansestadt Soest zutrug, ließ der Regen nach, der Morgen dämmerte, die Scheiben wurden klar und zeigten einen wolkenverhangenen, aber zunehmend trockener werdenden Himmel. Beim Umsteigen in Soest nieselte es noch gelegentlich. Pünktlich um 6:44 Uhr aber startete die RB59 der Eurobahn nach Dortmund und indem wir den Bahnhof verließen, hierauf den regulären, fahrplanmäßigen Haltepunkt Westönnen bedienten und weiter westwärts fuhren, unterquerten wir die Wolkenfront, die sich von Nordwest nach Südost über das Firmament spannte und dabei langsam nach Nordost abzog.
Als ich um kurz vor sieben in Werl den Zug verließ, standen noch Pfützen auf dem Boden, Straßen und Bürgersteige glänzten nass, die Stadt wies deutliche Spuren der vorangegangenen Regenschauer auf, die Luft war kühl und frisch, jedoch trocken, und darum erreichte ich am Ende nun ebensolchen, nämlich trockenen Fußes meine Wohnung, wo ich nach dem „Mehr-als-vierundzwanzig-Stunden-auf-den-Beinen-sein“ fast vollständig verausgabt und erschöpft mich schnell meiner Kleidung, der Hörgeräte und der Brille entledigte, einen letzten Gang zur Toilette machte und mich darauf zu Bett legte, um in der anschließenden Muße- und Ruhezeit wenigstens etwas zu schlafen und zu regenerieren. Relativ gut erholt erwachte ich nach drei Stunden; jetzt erst fühlte ich mich wirklich zuhause angekommen und dankte Gott von Herzen, der mich trotz aller erfahrenen Widrigkeiten bewahrt, geleitet und zuletzt mit guter Heimkehr beschenkt hatte.