Ein Märchen
Eine halbe Bootsstunde vor der Küste des Festlandes, bei Ebbe etwa zwei Wegstunden entfernt durchs Watt, liegt die Insel Burghelm. Auf der leichten Höhe des sonst flachen Eilandes steht ein mächtiger, stattlicher Ziegelbau, wie man ihn hier kaum vermutete. Alte, aber doch kräftige, häufig windschiefe Kiefern umgeben ihn, Ginsterbüsche füllen die Lücken zwischen den Stämmen, so dass das Werk von Menschenhand nicht leicht zu sehen ist. Schlossgleich erhebt sich der Bau, den die Pflanzen wie ein Geheimnis verbergen, zu ihm gehören das Haupthaus mit zwei Seitenflügeln, dazu auch einige Vorrats- und Nebengebäude, die ehemals den Marstall und die Wohnungen der Dienerschaft bildeten.
Hier lebten einst die Fürsten von Seeland. Ihr Herrschaftsgebiet reichte immer den Strand und das Hinterland entlang vom Mündungsdelta des Grauen Flusses im Süden bis hinauf in den Norden an die schwarzen Klippen zu Füßen der eisigen, schneebedeckten Berge Noorgards, dem finsteren Reiche des Nordlandkönigs. Gerne hätten sie ihr Territorium vergrößert, diesen nur langen und schmalen Streifen. Aber weiter landeinwärts lagen die anderen Fürstentümer und Grafschaften des Königreiches Medjagar. Die geboten, auch wegen des Schutzes durch die königliche Reichshoheit, diesem Wunsche Einhalt, wollte man nicht gegen seine Majestät, den König, und die gewaltige Übermacht der übrigen Reichsfürsten und ihrer Heere streiten und Krieg führen.
So blieb ihnen nur das Meer, das Reich von König Grauflut.
Seit Jahrhunderten schon rangen ihm die Menschen Stück um Stück ab. Sie bauten Buhnen aus Stein und Lahnungen aus Holz und Reisig ins Watt hinein. Wirbelte dann die einlaufende Flut durch ihre Strömung den feinen Sand vom Grunde auf, trugen ihn die Wogen landwärts. Zwischen den Lahnungsfeldern jedoch kamen die Wogen zur Ruhe. Der Schlamm setzte sich am Boden ab oder blieb zwischen den Reisern hängen, so dass die Ebbe nur das klare Wasser wieder in die See zurückspülte.
Allmählich, ganz allmählich wuchs so Schicht um Schicht empor, hob sich der Meeresgrund, bis später die Flut den Schlick kaum mehr bedeckte. Dann kamen die Zeiten der Salzwiesen und endlich auch die Tage, dass die Marschbauern um dieses Stück neuen Landes einen Deich bauten und die Grenze zu König Graufluts Reich vorschoben. Doch musste danach die Erde erst noch fest und trockener werden, der Boden das restliche Salz verlieren, bevor der Koog schließlich von ihnen im ganzen Umfang genutzt werden konnte.
Mühselig war dieser Landgewinn und überaus langwierig. Aber Grauflut duldete nur auf diese Weise den Eingriff des Menschen in sein Reich.
In der Geschichte der Fürstenfamilie folgte Geschlecht auf Geschlecht in steter Reihenfolge, der Sohn erbte Titel und Lehen vom Vater, die Tochter von der Mutter. Einst kam der Tag, an dem Fürst Harald die Regentschaft in Seeland antrat. Er war ein junger Heißsporn, ungeduldig und ehrgeizig. Klare, blaue Augen schauten in die Welt. Auf der hellen Haut trug er blasse Sommersprossen, ein schmächtiger Hänfling von Statur, doch reckte er sein Haupt mit den rotgoldenen Locken stolz empor, als der Vater ihm die Fürstenkrone aufs Haar setzte.
„Weise sei dein Urteil, rechtschaffen deine Tat!“ waren seine Worte dabei. „Habe einen friedvollen Sinn, einen wachen Verstand und ein mitfühlendes Herz.“
Der Alte reichte ihm Herrscherstab und Langschwert.
„Regiere, aber unterdrücke nicht. Allzeit schone und schütze das Leben. Bleibe ein treuer Vasall Medjagars und achte auch den ewigen Bund mit Grauflut!“ Und der Sohn empfing den Kuss der väterlichen Lippen auf die Stirn.
Nun trat er auf den Repräsentationsbalkon des Schlosses. Mit kräftiger und durchdringender Stimme, die man ihm kaum zutrauen wollte, sprach er herab zu den Menschen: „Ich gelobe: Stets werde ich danach streben, dem Wohl meines Volkes zu dienen. Ich will das Ansehen Seelands in der Welt fördern und Schaden von ihm wenden. Recht und Gerechtigkeit sollen überall im Fürstentum gelten, dem Gemeinen gleich wie dem Edlen, ohne Ansehen der Person. Den Reichtum meiner Lande und der Menschen, die in ihnen leben, zu wahren und zu mehren, sei mein erkorenes Ziel.“
Lauter Jubel antwortete ihm vom Schlosshof herauf. Hunderte und Tausende Hände, Tücher, Fähnchen winkten ihm zu, unzählige Hüte und Mützen stiegen in die Höhe. Ein strahlender Tag auf Schloss Helm und ein guter Tag für Seeland und seine Hauptstadt Helmshafen vor den Toren der Burg, so meinten viele.
Ja, der alte Fürst hatte seinem Jungen eine tadellose Erziehung und hervorragende Ausbildung zuteilwerden lassen. Die drei letzten Jahre war er weit, weit fort von der Heimat gewesen. An der großen und hochgerühmten Universität zu Oleborg, der Residenzstadt des Königreiches Medjagar, hatte er studiert. Von dort kehrte er zurück mit neuen Ideen im Kopf, aber arm im Herzen. Denn das frühere Wissen um die Kräfte der Natur war ihm in Vergessenheit geraten, das Vertrauen zu den mannigfaltigen Wesen und Geschöpfen der Geisterwelt verloren, ihre unsichtbaren Mächte nicht länger geachtet. Und hatte er auch gelobt, Schaden von Seeland abzuwenden, so hieß das für ihn eben nicht, die aus der Vergangenheit überkommenen Regeln zu ehren und sich an die überlieferten Abkommen zu halten, die die Altvorderen mit den Magischen geschlossen hatten.
Darum gedachte er vielmehr, das über Generationen hin eingehaltene Einvernehmen mit dem Herrscher des Meeres missachten zu können und zu sollen. Denn wo es keinen magischen König der See gab, dort konnte es auch keinen Raub an seinem Reich, dem Grund und Boden der Meerflut, geben. – Und natürlich keinen Bruch eines Bundes zwischen dem Reich der Menschen und dem der Geister.
O weh! Harald glaubte wahrhaftig nicht länger an die Existenz des Meerkönigs, glaubte nicht, dass Grauflut und seine Herrschaft Wirklichkeit seien. Niemand vermochte ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Es konnte halt keiner unwiderlegbar beweisen, dass Grauflut oder ein anderes Wesen – und nicht nur die bloße Natur – das Meer beherrschte. Dazu wollte er in seinem ungeduldigen Ehrgeiz, dass Seeland nicht derart langsam und nur in kleinsten Schritten wuchs, nein, er wollte es so schnell wie irgend möglich zu einem großen und mächtigen Fürstentume machen.
Schon bald begann also der junge Fürst einen neuen Deich zu bauen. Doch diesmal war es keiner, der einige dem Meere mühevoll abgerungene Salzwiesen schützte, sondern dies war ein Deich, der keck in die See hineingebaut gleich eine ganze große Bucht von König Graufluts Reich abtrennte.
Da geschah es, als der Bau im vollen Gange war, dass einen schönen Tages ein wunderlicher Greis vor dem Tore der Helmburg stand und Einlass begehrte. Ein Haarkranz, grünbraun und wirr wie Tang, hing ihm vom sonst kahlen Schädel. Unablässig rieselte Wasser daran nieder und versickerte in einem sandfarbenen Gewande, dessen Muster an Schlickwellen im Watt erinnerte. Seine Augen blickten wild und dunkel gleich der stürmischen See. Er schwankte wie ein Kahn auf rollenden Wogen und roch nach Fisch und Teer.
„Meldet dem Fürsten, ein Gesandter aus dem Reiche des Meerkönigs Grauflut, des Wogenherrschers, ersuche um eine Audienz!“ gluckste er. Das klang, als wenn Wellen sich an der Kaimauer brachen. Kleine Pfützen bildeten sich um seine Seemannsstiefel.
„He, Alter, in diesem Aufzug kannst du aber nicht vor den Fürsten treten.“ schnarrte die Torwache. „Und überhaupt,“ der Mann rümpfte die Nase, „ was unterstehst du dich, seine Gnaden um solch eine Gunst anzugehen?“
„Willst du wohl auf der Stelle meine Forderung überbringen!“ pfiff da Folgsamkeit heischend plötzlich eine steife Brise um die Ohren der Wache, dass sie zusammenfuhr. „Ich bin immerhin der Stellvertreter eines Königs und nicht irgendwer!“
Da nahm der Soldat seine Beine in die Hand und sauste – hast du nicht gesehen? – durch den Hof, die Treppe hinauf und ins Schloss. Es dauerte nur eine kleine Weile, dann erschien Fürst Harald selbst, um sich den seltsamen Gast zu betrachten. Prüfend glitt sein Blick über die Gestalt. Er schüttelte den Kopf, ratlos und staunend. Zögernd trat er näher, hinter ihm ein paar Wachsoldaten und einige neugierige Diener.
Endlich fragte der Fürst in strengem, forschendem Ton: „Wer, sagtet Ihr, wollt Ihr sein?“
„Ich bin Priscus, ein Meergreis. Als Bote komme ich zu Euch, Hoheit, gesandt von seiner Majestät König Grauflut.“ gluckste der ehrwürdige Alte. „Was, Grauflut?“ entgegnete der Regent und seine Stimme hob sich erzürnt. „Das ist doch nur ein Märchen. Dieser König ist nicht wirklich und lebt nur im Reich der Phantasie. Halte mich nicht zum Narren! Du könntest dir meinen Unmut zuziehen.“
Da blitzte es drohend in den Augen des Greises, während er grollend antwortete, dass es wie ein heraufziehender Sturm klang: „Irrt Euch nicht, Fürst Harald! Mein Herr, König Grauflut, ist keineswegs eine bloße Phantasie. Und mich, seinen Abgesandten behandelt nicht wie einen Bettler, der vor Euer Schloss kommt. Erweist die Achtung, die mir zusteht!“
„Er ist irre, Mann!“ erwiderte Harald abweisend. „Ich soll ihm den Zutritt ins Schloss gewähren und Ihn wie einen Mann von Adel empfangen? Dass ich nicht lache! Er verdirbt mir ja die kostbaren Teppiche und das edle Parkett mit seinem Getropfe, seinen Pfützen. Dazu stinkt Er wie ein altes Fischerboot aus dem Hafen und glaubt noch an Märchen und Kindergeschichten.“
Unterdessen hatte der Meergreis sich aufgerichtet und überragte Fürst Harald um Kopfes Länge. Sein Gewand war dunkel geworden, die Wellen des Musters trugen schmutzigweiße Schaumkronen, von denen der Sturmwind hellsprenklig die Gischt riss und über die schwarzen Wasser schleuderte. Heller Zorn stand in seinen Augen.
„Du Vermessener!“ donnerte seine Stimme brüllend wie ein Orkan. „Höre! Ja, höre gut, höre genau auf die Botschaft, die König Grauflut, der Herrscher des Meeres, Dir sendet: Beende den Bau deines unseligen Deiches! Beende den unzeitigen Raub am Reich des Wogenherrn! Beende den frevelhaften Bruch des altehrwürdigen Bundes zwischen Geisterreich und Menschenwelt! Wenn Du nicht innehältst, wird König Grauflut sich bald schon Genugtuung zu verschaffen wissen und den Frevel rächen. Er wird Dir Sterblichem deine Grenzen aufzeigen. Darum unterstehe Dich, deine Überheblichkeit fortzusetzen, denn was vermöchtest Du, Menschlein, gegen Uns auszurichten?!“
Harald war erschrocken und furchtsam ein Stück zurückgewichen.
„Deine Worte und dein Verhalten haben mich zutiefst beleidigt“, schimpfte Priscus weiter. „Dennoch habe ich jetzt meinen Auftrag gegen Dich getreu erfüllt, allein um der unschuldigen Menschen willen, die unter deinem Volke sind. Du aber wage nicht, mich noch einmal zu reizen oder gar seine Majestät, König Grauflut, herauszufordern – Du wirst es sonst bitter bereuen müssen und gar teuer zu bezahlen haben, jedoch Du nicht allein sondern dein ganzes Volk und Geschlecht mit Dir!“
Darauf wandte der Greis sich ab, machte kehrt und ließ den Fürsten zusammen mit seinen Dienern und Soldaten einfach stehen. Mit großen Schritten und so behände, wie man es ihm wohl nicht zugetraut hätte, entfernte er sich, war einer Sturmbö gleich davon und plötzlich verschwunden.
Harald stand überaus verdattert noch eine Weile stumm und reglos da, endlich löste sich seine Verblüffung, er kehrte zurück in seine Gemächer. Dabei grübelte er über das Erlebte nach. Wie sollte er sich nur verhalten? Den Worten des merkwürdigen Alten folgen und die Arbeiten an seinem Deich einstellen, seine Pläne aufgeben? Oder die vernommene Drohung als das Hirngespinst eines kindischen Narren abtun und munter weitermachen? Je länger er darüber nachdachte, umso unwirklicher erschien ihm der ganze Vorfall. War er denn nicht der Fürst Seelands und sollte sich vor einem verwirrten Greis oder einer eingebildeten Märchengestalt fürchten? Das wäre ja noch schöner! Nein, je mehr die Begegnung mit Priscus in seiner Erinnerung verblich und sich ins Reich der Einbildung verflüchtigte, desto stärker verspürte er den unbezwingbaren Drang, den Fortgang der Deicharbeiten kräftig zu fördern, sie zu verstärken und zu beschleunigen.
Inzwischen war Priscus, der Meergreis, zu König Grauflut zurückgekehrt und hatte ihm von dem unerfreulichen Ablauf und ergebnislosen Ausgang der Unterredung mit Fürst Harald berichtet. Daraufhin begab sich der Wellenherrscher zu der Bucht, um zu sehen und in Erfahrung zu bringen, was da geschah und sich weiterhin ereignen sollte.
Schäumender Zorn und rasende Wut überkamen ihn, als er feststellen musste, wie weit das Werk schon vorangeschritten war. Seine schönen Muschelbänke und die Weiden seiner Seekühe, die Nahrungsgründe seiner Fischschwärme, die Tangwälder und Seegraswiesen, bald würden sie nicht mehr zugänglich sein, eine seichte, milde Region der Küste seinem Reiche unwiederbringlich verloren gehen. Ein Teil des Meereslebens wäre bedroht. Ob der Mensch dort oben überhaupt wusste, was er da tat? Ob er ahnte, dass er seinen Fischern Arbeit und Brot nahm, ihnen ihr Auskommen schmälerte, als er den Bau dieses Deiches befahl? Aber noch war es nicht gänzlich zu spät, diesen Frevel zu verhindern.
Grauflut zog in den Norden zu seines Vaters Brudersohn Sturmbart, dem Herrn der vier Winde, der auf Burg Windeck hauste. Ihn bat er um Hilfe. Einen Sturm sollte er gegen Seeland senden, während der Meerkönig selbst zum tiefen Meeresgrund hinabsteigen wollte, um die mächtigsten Wogen, haushoch und von gewaltiger Kraft, zu erregen und sie von dort zur Oberfläche zu schleudern, wo Sturmbart sie mit Hilfe eines Orkans gegen die Küste des Fürstentums treiben konnte. Wie lange wohl widerstände der noch unfertige Deich dieser Flut, wenn sie nicht nur von vorn gegen ihn rollte, sondern auch rückwärtig von der noch nicht geschlossenen Bucht her an ihm fräße. Wenn die Wasser nagten, die Strudel wirbelten, die Wogen spülten, die Wellen schwemmten, der Wind ihn landwärts drückte und der Sog ihn meerwärts riss. So dachte Grauflut bei sich.
Nun war in diesem Jahr der Sommer schon weit fortgeschritten, darum entschloss sich Sturmbart, seinen Lieblingssohn Herbststurm zu wecken, damit er gen Süden fahre und sich auf Seeland werfe. „He, Grollhans!“ donnerte er durch seine Burg. „Munter aufgewacht. Ich habe einen Auftrag für dich.“ Zunächst blieb noch alles still, er regte sich nicht. „Grollhans! Mein Sohn Grollhans, he!“ brauste es erneut durch die Säle und Stuben der Burg.
Da schlug der Herbststurm die verschlafenen Augen auf, besann sich und fuhr von seiner Lagerstatt auf. Er eilte stürmenden Flugs und mit wehenden Haaren zu seinem Vater. „Sturmbart, liebstes Väterchen!“ brauste er frohlockend, „ist’s wieder so weit, dass ich aus der Burg fort und in die Welt darf?“ „Ach, Grollhans, mein Sohn. Eigentlich ist es dazu noch etwas früh im Jahr, aber Vetter Grauflut, der Meerkönig, ersuchte um Beistand. Da ist ein Fürst der Menschen in Seeland, der ihn aufs Heftigste ärgert. Der soll eine ordentliche Rechnung von ihm erhalten und wir, wir wollen dem Wogengebieter helfen, die Schuld einzutreiben. Darum zieh dorthin und tobe dich ein wenig an den Gestaden aus.“
„Hei, Väterchen, hei! Nichts lieber als das! Ich tanze mir den letzten Schlaf aus den Augen auf meinem Weg nach Seeland. War lang genug untätig und strotze nur so vor Kraft und Ungestüm, das sollen die Menschen gar bald voll Schrecken erfahren.“ Mit diesen Worten jagte Grollhans aus der Burg seines Vaters hinaus und tobte von Windeck dahin auf der Fahrt gen Seeland in übermütigen Böen, wirbelnden Hosen, pfeifenden Winden, grölendem Brausen.
Unterdessen war Grauflut schon in die Tiefen der Meerflut abgetaucht und hatte begonnen, mächtige Wogen auf dem Grunde der See zu erwecken. Die stiegen herauf, vereinten sich, wuchsen und dienten Grollhans als Spielzeug auf seinem Wege. Turmhoch mit steilen Flanken, dräuenden Bergen gleich, rollten die Wellen, die das Sturmkind vor sich hertrieb und in seinem Übermut zu gewaltigen Gebirgen zusammengeschoben hatte, gegen die Strände des seeländischen Fürstentums.
Diesen kindlichen Übermut nach der langen Ruhe hatte der Meerkönig allerdings nicht vorausgesehen. Immer schneller und von unwiderstehlicher Kraft jagte Grollhans die wallenden Wasser vor sich her, dass sie bald als unbarmherzige Sturmflut auf das Land trafen und weniger dem neuen unfertigen Deiche vor der Bucht zusetzten, als vielmehr den älteren Schutzdeichen und auch der gesamten Küste um Helmshafen. Das Unglück war abzusehen, die Katastrophe für das Binnenland und die Menschen, die sich im Schutz der Deiche sicher wähnten, nicht mehr abzuwenden.
Das hatte Grauflut so nicht gewollt. Als Meerkönig liebte er das Leben über alles, denn es war dem Wasser entstiegen. Im Wasser lag die Wiege des Lebens, Wasser war lebensnotwendig, ohne Wasser gab es nur Tod und Verderben. Die Flut hatte zwar dem unvernünftigen jungen Fürsten zur Warnung dienen sollen, sich nicht zu überheben; sollte ihm zur Lehre gereichen, Mächte und Kräfte der Natur zu achten, und dem Wogenherrscher die unrechtmäßig geraubte Bucht zurückgewinnen. Aber es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, unnötiger Weise Leben zu fordern, an Land nicht noch auf See den Tod über Menschen und Tiere zu bringen, die an Haralds Tun oder Lassen unschuldig waren.
Schließlich waren die Meerwasser so hoch gestiegen, dass sie an mehreren Stellen die Deichkrone überwanden und in das Hinterland des Fürstentums eindrangen. Auch weichte das Nass die Deiche auf, bis sie dem ungeheuren Druck der See und des Sturmes nachgaben. „Der Deich bricht! Rette sich, wer kann!“ gellten die angstvollen und verzweifelten Rufe der Wächter von den berstenden Wällen.
Und wie zuvor Fürst Harald sich Teile von Graufluts Reich nahm, so holte sich die Meerflut nun Lande von den Menschen zurück. So gewaltig war die Sturmflut in jenem Jahr, dass sie weite Bereiche von Helmshafen in die See riss, manchen Koog und Strecken des Festlandes eroberte und die Burg des Fürsten wie eine Insel umspülte. Viele Menschen büßten ihr Leben ein bei dem Versuch, sich vor dem Wüten der Elemente in Sicherheit zu bringen.
Auch Harald gehörte zu den Opfern. Sein Schiff, auf das er geflüchtet war, wurde zum Spielball der Wogen. Bei dem Versuch, die hohe See zu gewinnen, zerbrachen das Steuer und die Masten in gleicher Manier, wie Grollhans zuvor schon das Tuch der Segel mit seinen windigen Fingern zerfetzt hatte.
Als das Holz krachend zersplitterte, rissen auch die Taue und Leinen. Das Schiff ließ sich nicht mehr lenken. Es gehorchte keinem Manöver der Seeleute, vergeblich mühten sich Steuermann und Kapitän. Sturm und Strömung trieben es auf die umtosten schwarzgrauen Felsen der künstlichen Wellenbrecher vor der Hafenmündung zu, bis sich die scharfen Kanten des Riffs in die Planken bohrten. So schlug es nun leck und am Ende platzte der beschädigte Rumpf mit Getöse auseinander. Einige Matrosen konnten sich auf die Steinblöcke retten, den Fürsten aber holte die See.
Als man später die Überlebenden barg, erzählte einer von ihnen: „Wir sahen eine starke Woge daherkommen, deren Schaumkrone glich einer Herde galoppierender Schimmel mit wehender Mähne, Gischt spritzte unter dem Donner der Hufe. Sie hob Harald von Seeland empor und trug ihn davon, windschnell und in hastiger Eile. Bei meiner Seel, ich glaube gar, der Herrscher des Meeres, Grauflut selbst, hatte sie gesandt, um unseren Fürsten zu holen und ihn in sein Reich zu entführen.“ Und in der Tat, die Leiche des Fürsten wurde niemals gefunden, sie war und blieb für immer verschollen.
Was der Seemann geschaut hatte, war freilich keine Einbildung oder Fantasterei gewesen, sondern entsprach der Wahrheit. Als das Schiff, auf dem Harald Zuflucht vor dem Sturm gesucht hatte, havarierte, zum Schluss zerbrach und unterging, wurde der Fürst von einer losgesprengten Planke hart am Kopf getroffen, sodass er in Ohnmacht fiel. Den Hilflosen, der sonst zu ertrinken drohte, rettete der Wogenherrscher, denn er wollte ihm zeigen, noch bevor er sterben sollte, was seine Überheblichkeit für Folgen gezeitigt hatte, was alles in diesen Stunden der Sturmflut geschehen war. Darum sandte der Meerkönig sein liebstes weißes Ross Wogenschlag, dass es den Menschen auf seinen Rücken nähme und ihn hinab auf den Meeresgrund trüge, wo der Korallenpalast Graufluts stand.
Wie nun Harald aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwachte, die Augen aufschlug und die buntschillernden Wände des Schlosses erblickte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand, wie er hierher gekommen und was ihm widerfahren war. Da jedoch trat der Gebieter der Wogen zu ihm und sprach: „Fürst Harald! Ich heiße Euch in meinem Palast willkommen, obwohl Ihr meinen Gesandten, den altweisen Priscus, einen meiner Thronräte, in Eurer Burg nicht empfangen wolltet und ihm kein Willkommen botet. Ihm habt Ihr den Einlass verweigert, ich aber nehme Euch bei mir auf. Auf seine Vorhaltungen habt Ihr nicht geachtet, seine gutgemeinten Warnungen in den Wind geschlagen, meiner Botschaft Eure Ohren und Euren Sinn verschlossen. Nun seht und erkennt, wie ernst sie gemeint waren und was Ihr mit Eurer Ignoranz verschuldet habt! Ihr hieltet mich für eine Ausgeburt der Phantasie, verlegtet meine Herrschaft in das Reich der Einbildung, jetzt aber stehe ich leibhaftig vor Euch und zeige Euch meine Macht über Meer und Wellen, Fisch, Tang, Muschel und Koralle. Wegen Eures menschlichen Hochmuts haben viele Menschen Eures Landes das Leben lassen müssen und das Meer hat sich weite Teile Eures Fürstentums für mich zurückerobert.“
Und Grauflut zeigte dem Fürsten von Seeland das durch die Sturmflut beschädigte Gestade, die verheerten Strände, die verwüsteten Orte, die getöteten Menschen und Tiere, indem er ihn in seiner Muschelkutsche an die Küste fahren ließ.
Wo sich früher der leichte Hügel mit Burghelm, dem Schloss der Regenten Seelands, in Mitten der Häuser erhoben hatte, war nur das flache Eiland mit dem Backsteinbau der Burg geblieben, wie wir es heute kennen. Die Flut umspülte es mit seichten Wellen, bei Ebbe lag es im Watt. Die einst stolze Stadt Helmshafen war versunken, ein Raub der Wogen. Die Becken des ehemaligen Hafens wandelten sich zu einem ergiebigen Fischgrund, der manchem Fischer in seinem Boot den nötigen Lohn, Leben und Brot, eintrug. Wo Deiche eingebrochen und zerstört worden waren, hatte sich die Küstenlinie verändert, einige Dörfer waren zu Wüstungen geworden, die Äcker wieder zu Watt, das bei Flut vom Wasser überspült wurde. Auch der unvollendete Deich, der die Ursache der Empörung gewesen, hatte seine Höhe und Kraft eingebüßt, aber ein Teil der Bucht, die hinter ihm lag, verlandete, denn er wirkte noch wie eine ins Meer hineingebaute Buhne.
Nachdem Harald alles in Augenschein genommen hatte, fragte er verzagt: „Was soll jetzt geschehen?“
„Euch konnte ich retten, manchen anderen nicht,“ entgegnete der Meerkönig. „Aber ihr werdet den Korallenpalast und das Meer Euer Leben lang nicht wieder verlassen, denn welcher Mensch einmal von mir in dieses Reich aufgenommen wurde, der kann niemals mehr zur Oberwelt zurückkehren. Ihr seid ein Luftwesen und meine Macht kann Euch jetzt vor dem elenden Tod des Ertrinkens bewahren. Aber wolltet Ihr ans Land, so wäre meine Macht dort zu Ende und Ihr müsstet ersticken, weil Eure Lungen die Luft nicht mehr zu trinken vermögen. Das ist die Strafe, die ich nicht rückgängig zu machen im Stande bin, Strafe für Eure Leugnung der Geisterwelt, für den Zweifel Eures Herzens und die Abkehr Eures Verstandes.
Das Geschlecht der Fürsten von Seeland erlischt mit Eurem Untergang, denn Ihr habt weder Geschwister noch Frau und Kind. Andere Machthaber aus dem Königreich Medjagar werden kommen und Eure Lande unter sich aufteilen. Mögen sie weiser sein, als Ihr es waret, und den Bund mit uns einhalten, weil ich wünsche, dass ein Unglück, wie es jetzt geschehen ist, sich nicht wiederhole. Ich will das Leben und nicht den Tod.“
„Dies Schicksal ist zu schwer, ich kann es nicht tragen!“ jammerte Harald verzweifelt. Er brach zusammen und sank auf die Knie. „Was soll nur aus mir werden –?“
„Ihr seht, welche Folgen es hat, wenn Menschen meinen, die alleinigen Herren der Welt zu sein und sich als solche aufspielen. Die Schöpfung ist weise geordnet, ihre Regeln werden nicht ungestraft übertreten, auch wenn es gelegentlich geschieht, dass die Folgen mehr als ein Menschenalter auf sich warten lassen. Euer Geschlecht, die Menschheit, sollte das immer und jederzeit bedenken und beherzigen.
Aber ich will Euch, Fürst Harald, eine Gnade gewähren, da Ihr durch mich ein so überaus hartes Schicksal erfahren habt und nicht eine Strafe, die in ihrer Größe für die gesamte Menschheit ausreichte, ganz allein erdulden sollt. Denn findet Ihr unter den ledigen Frauen des Meervolkes eine, deren Herz von Eurem Geschick berührt sich Euch zuneigt und gar in Liebe entbrennt – und sei es auch eine meiner eigenen Töchter – und will sie den Ehebund mit Euch schließen, fortan Eure einsame Gefangenschaft in der Wasserwelt lindern, so werde ich selbst die Trauung vollziehen und hoffe dabei, Euch wenigstens zu einem kleinen Teil mit Eurem Los zu versöhnen. Vielleicht, dass Euch nachher die restliche Zeit des Lebens fast wie im Fluge vergeht und Ihr am Ende geläutert und getröstet von hinnen scheidet.“
So sprach Grauflut, der Beherrscher der See und ihrer Bewohner, und so geschah es auch. Niemand hätte etwas von diesem Ereignis erfahren, wenn damals nicht ein kluger Schildnöck, der des Schreibens kundig war und diese Kunst anzuwenden verstand, die Geschichte in wohlgesetzten Lettern aufgeschrieben hätte. Als Pergament nutzte er eine abgelegte Seeschlangenhaut, der Stachel eines Seeigels war seine Feder und die Tinte erhielt er von einem Tintenfisch. Wie er mit der Erzählung fertig war, verwahrte er das Werk zusammen mit anderen Schriftstücken in einer Perlmuttmuschel. Zu seinem Leidwesen, aber zu unserem Glück, ging die ihm verloren und wurde von den Wellen getragen an einen Strand gespült, wo sie ein Dichter beim Spaziergang im Sand entdeckte. Er übertrug den Bericht in die Sprache der Menschen und nur darum wissen wir heute um das Los, das dem letzten Regenten von Seeland beschieden war.
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